Ich berichte aus einem Jahr, lange vor dem Stimmbruch und mit milchigem Teilgebiss. Man schrieb den 6. Dezember im Jahre des Herrn anno 1963.
Von Paul Lagall
Nun, in der großen Küche meiner Großeltern hatte sich an diesem Tag die nähere Verwandtschaft eingefunden, das heißt zwei Tanten, meine Mutter, zwei Cousins, eine Cousine und meine Wenigkeit.
Wir Kinder waren schick angezogen und irgendwie ahnten wir, dass dieser Tag etwas besonderes sein sollte – schließlich hatte sich der Nikolaus bei meinen Großeltern angesagt.
Langsam dämmerte es, draußen lag Schnee, Kerzen wurden angezündet und mein Opa legte einige heiße Weihnachtsrhythmen auf; ähnlich „Ihr Kinderlein kommet“, „Schneeflöckchen, Weißröckchen“ und so weiter, eben jährlich wiederkehrende Evergreens.
Plötzlich hörten wir, dass jemand die Haustür öffnete. Wir hörten Tritte von schweren Stiefeln in dem etwa vier Meter langen, gefliesten Hausflur. Das musste der Nikolaus sein, er war von weit hergekommen und hatte uns trotzdem gefunden (wie immer das damals möglich sein konnte – ohne Navi). Unsere Augen begannen zu funkeln; die Warterei hatte ein Ende. Jetzt konnten wir uns auf unsere Geschenke freuen.
Doch die Schritte wurde von einem unheilbringenden, metallischen, undefinierbarem Etwas begleitet. Die vier Meter schienen endlos lang zu sein und langsam wich unser funkelnder, einem eher ängstlichen Blick. Ich sah meinen Lieblingscousin an und konnte erkennen, dass auch ihm nicht wohl bei der Sache war. Ja, er hatte sogar die Gesichtsfarbe gewechselt. Was in aller Welt kam da auf uns zu?
Irgendwann öffnete sich die Tür. Wir nahmen einen rotgekleideten Mann mit einem weißen Bart wahr. Um die Hüfte trug er einen breiten, schwarzen Ledergürtel mit einer riesigen Schnalle und schwere, schwarze Stiefel. Im linken Arm hatte er zwei Bücher, mit der rechten Hand hielt er das Ende eines Jutesackes, den er auf dem Rücken trug.
Der Nikolaus. Wir konnten wieder atmen. Doch noch bevor er nur ein einziges Wort gesprochen hatte, schob sich ein schwarzgekleideter Finsterling an ihm vorbei in den Raum. In der rechten Hand hatte er den Griff einer mächtigen Rute, in der Linken hielt er eine schwere Kette, die über den Boden schliff.
Am liebsten hätte ich mich verkrümelt, das war irgendwie anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Wie hatte ich mich auf diesen Tag gefreut und nun?
Endlich ließ das Kettenrasseln nach und der Nikolaus ergriff das Wort.
Auf die Frage, ob wir alle brav gewesen seien, nickten wir mit bleichen Gesichtern einstimmig und hofften, dass er uns glaubte. Nun geschah das Unausweichliche. Er stellte den Jutesack ab und öffnete eins der beiden Bücher, welche er im linken Arm gehalten hatte. Das Buch war schwarz.
Langsam, mit gewichtiger Stimme begann er zu lesen, manchmal hob und manchmal senkte sich seine Stimme, manchmal schaute er uns tief in die Pupillen. Oh Gott, was für eine Qual – der Mann wusste alles. Manchmal schwang der Schwarze die Rute, brummte etwas vor sich hin und rasselte mit seiner schweren Kette.
Ich glaube, dass ich keinen Tropfen Blut mehr gegeben hätte. Alle Sünden des vergangen Jahres fielen mir wieder ein – alle!! Ohne Ausnahme!!
Wieso hatten wir die Hühner geärgert und den Hahn eingesperrt? Wieso hatten wir Eier versteckt, um sie so richtig schön faulen zu lassen und dann als Stinkbomben zu benutzen? Warum warfen wir mit Mirabellen auf den gutmütigen, alten Hektor, der sein Gnadenbrot erwarete, wieso in aller Welt wollten wir mit Benzin und zwei Holzstöcken Feuer machen, nachdem man uns die Streichhölzer weggenommen hatte und wieso hatten wir der Nachbarin immer die Metallfedern aus den Klammern geklaut?
Das war das Ende, definitiv!!
Plötzlich schloss der rote Mann das schwarze Buch und wir mussten einzeln vortreten. Er ermahnte uns eindringlich, wobei der Schwarze nicht untätig zuschaute. Er stampfte auf, rasselte und schwang die Rute. Wir wollten nie wieder irgendwas oder irgendjemanden ärgern. Das Versprechen kam uns automatisch über die Lippen.
Anschließend las er aus dem goldenen Buch vor. Eine oder zwei gute Taten hatte jeder von uns auf dem Konto, zu einem Remis reichte es jedoch nicht aus – bei weitem nicht.
Aber weil wir ihm versprochen hatte, nieee mehr unartig zu sein, war er gnädig und verteilte Geschenke. Der Schwarze hatte sich beruhigt, das hob die Stimmung.
Der Nikolaus sprach noch ein paar Worte, dann verließen sie uns, wir lauschten jedem Schritt hinterher, bis die Haustüre wieder ins Schloss fiel. Wir waren durch die Bank erleichtert und nahmen bald wieder Farbe an.
Aus Opas Musiktruhe erklang „Fröhlich soll mein Herze springen“!
Der Tag ist mir bis heute unvergesslich und ich hoffe, dass ich die Beiden nicht mehr wiedersehe, denn – ganz im Vertrauen – war mein Versprechen nicht von langer Dauer.
Anmerkung: Ich frage mich heute, wo das alles geblieben ist – und damit meine ich nicht nur den Schnee …..
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